TSCHEKHOW-SCHAU: „Höllenlabyrinth oder die Metaphysik des Beils" „… das Landgut der Adeligen Ranewskaja wird aus der Verschuldung heraus verkauft und der Kaufmann Lopachin belehrt uns, wie man sich aus der Situation herauswindet: „Man muss den Boden in Grundstücke aufteilen und diese als Datschen vermieten." Und wie groß ist das Landgut? Ich frage meine Bekannten, frage Schauspieler, die im „Kirschgarten" spielen, frage die Regisseure, die das Stück aufführen. Die Antwort ist immer dieselbe: „Ich weiß es nicht". Verständlich, dass man es nicht weiß. Man muss sich die Ausmaße nur einmal vorstellen. Der jeweils von mir Gefragte ächzt, stöhnt, sagt dann unsicher: „2 Hektar vielleicht?" – Nein. Ranewskajas Landgut ist mehr als tausend Hektar groß." Lopachin. Hören Sie mein Projekt. Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit! Ihr Gut liegt nur zwanzig Werst von der Stadt ab, und es hat direkte Bahnverbindung: wenn der Kirschgarten samt dem Terrain am Flusse parzelliert und mit Sommerhäuschen bebaut wird, können Sie sich ein Jahreseinkommen von mindestens 25 000 Rubeln sichern. Sie nehmen von den Sommerfrischlern, billig gerechnet, 25 Rubel Jahrespacht pro Hektar. Wenn Sie die Sache jetzt gleich in Angriff nehmen, dann gehe ich jede Wette ein, daß Sie bis zu Herbst nicht ein kahles Fleckchen übrig behalten, alles werden Sie los. (Anton Tschechow: "Der Kirschgarten") Das bedeutet tausend Hektar groß. Außer dem Garten und dem „Land am Fluss" haben sie auch noch hunderte Wald-Zehnte." (Alexander Minkin) *** Kaum betritt der Besucher die Türschwelle, gerät er in das spärlich beleuchtete Labyrinth der Ausstellung, die in kleine, mit „Wänden" begrenzte „Abschnitte" aufgeteilt ist: Riesige Polizisten-Figuren, verharrt in ihren „professionellen" Stellungen, überwachen selbst die kleinste Bewegung im Saal. Die unüberwindbare und unsinnige Kraft dieser Menschen-Wände zeichnet den Weg durch die Ausstellung zum nicht existierenden Finale. Folgt der Besucher diesem Weg in der Enge und Dunkelheit, strebt er gefühlsmäßig „zum Licht", stößt letzten Endes aber an ein großes horizontales Bild, auf dem wohlbekannte russische Landschaft zu sehen ist – trübselig-grau und herbstlich-winterlich. Diese Foto-Papierleinwand, die der gemalten Feuerstelle in Papa Karlos Stube gleicht, „scheint für niemanden und wärmt niemanden", sie lässt die Hoffnungen des Betrachters ohne Antwort. "Lopachin: Kommt alle her und seht zu, wie Jermolai Lopachin mit der Axt durch den Kirschgarten fährt, wie die Bäume zu Boden stürzen! Sommerhäuschen wollen wir hier errichten, unsere Enkel und Urenkel werden hier ein neues Leben schauen … " In Tschekhovs Stück gibt es noch eine Person, die vom Autor in der Personenauflistung jedoch nicht aufgeführt ist: das Beil. Ein während des Stücks wichtiges und immer wiederkehrendes Geräusch nennt Tschekhov entsprechend „Beilschlag": "Die Bühne ist leer. Es wird still, nur das dumpfe, einförmige traurig aufschlagende Hallen der Axt auf die Baumstämme läßt sich in dem Schweigen vernehmen". Die in ihrer Leere beinahe kosmisch anmutende Landschaft des ehemaligen Landguts, das für Familie Ranewski zu einer untragbaren Last geworden ist, gehört nun dem Unternehmer Lopachin. Er zielt darauf ab, diese noch lebendige, aber wie immer unheimliche, theatralisch-triste und hoffnungslose Realität Tschekhovs in kleine, eingezäunte und äußerst lukrative Landstückchen zu zerstückeln. Ausweglos? | |